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Zoologie

Dieser Meereswurm verblüfft Biologen

Die Riesenaugen eines Mittelmeer-Borstenwurms sehen unglaublich scharf – aber wozu?

Borstenwurm mit Riesenaugen
Der im Golf von Neapel vorkommende Meereswurm Vanadis formosa hat riesige Augen und eine überraschend scharfe Sicht. © Michael Bok

Erstaunlicher Fund: Biologen haben im Mittelmeer Borstenwürmer mit riesigen, ungewöhnlich scharfen Augen entdeckt – sie sind einzigartig im Tierreich und geben Rätsel auf. Denn die räumliche und zeitliche Auflösung dieser Riesenaugen ist die höchste je bei einem Borstenwurm entdeckte – er sieht ähnlich scharf wie Säugetiere oder Oktopusse. Doch der Meereswurm ist nachtaktiv und benötigt daher seinen Sehsinn eigentlich kaum. Wozu hat er dann trotzdem eine so scharfe Sicht?

Ob Falke, Fliege, Oktopus oder wir Menschen: Es gibt viele Lebewesen mit scharfen, hochentwickelten Augen. Doch sie alle gehören zu nur drei von 35 Stämmen des Tierreichs: den Chordatieren, den Arthropoden oder den Mollusken. Nur in diesen Stammeslinien haben sich fortgeschrittene Facetten- oder Linsenaugen ausgebildet, die Objekte in ihrer Umgebung räumlich und zeitlich hochaufgelöst abbilden können – so jedenfalls dachte man bisher.

Marine Borstenwürmer
Foto des marinen Borstenwurms Vanadis sp. (a) und Nahaufnahme der Augen der drei untersuchten Arten Vanadis formosa (V.f.), Torrea candida (T.c.) und Naiades cantrainii (N.c.). © Bok et al./ Current Biology, CC-by 4.0

Mini-Würmer mit riesigen Augen

Doch nun erhalten die Scharfseher unter den Tieren unverhofften Zuwachs – von vermeintlich simplen Meereswürmern. Entdeckt haben dies Michael Bok von der Universität Lund und seine Kollegen, als sie die Augen von drei vor der Küste der italienischen Insel Ponza vorkommenden Borstenwurmarten näher untersuchten. Weil diese zu den Alciopiden gehörenden Polychaeten nachtaktiv sind, war das Einfangen nicht leicht: „Niemand hat bisher einen dieser Würmer tagsüber gesehen, daher wissen wir nicht, wo sie sich verstecken“, berichtet Bok.

Das Besondere an diesen Würmern sind jedoch ihre überproportional großen Linsenaugen: Bei der Spezies Vanadis formosa sind diese riesigen, vorgewölbten Sehorgane 20-mal schwerer als der gesamte Rest des Kopfes. Die rötlich gefärbten Kugelaugen sind zudem der fast einzige nicht transparente Teil des Wurmkörpers, wie die Biologen erklären. Doch wie gut die Tiere mit diesen Riesenaugen sehen können, war bisher unbekannt.

„Wir wollten das Rätsel lösen, warum ein nahezu unsichtbarer, transparenter Wurm, der mitten in der Nacht frisst, solche enorm großen Augen entwickelt hat“, erklärt Bok. Dafür analysierten er und sein Team die Linse und Netzhaut der Wurmaugen und testeten ihre zeitliche und räumliche Auflösung.

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So scharf wie Säugetieraugen

Das erstaunliche Ergebnis: Die langborstigen Meereswürmer sehen verblüffend gut. Obwohl ihre riesigen Linsenaugen vergleichsweise einfach aufgebaut sind, sehen die Würmer damit ähnlich scharf wie Mäuse oder Ratten, wie die Tests ergaben. „Das ist wirklich spannend, denn es ist das erste Mal, dass ein so fortgeschrittenes und hochaufgelöstes Sehen außerhalb der Wirbeltiere, Arthropoden und Kopffüßer nachgewiesen wurde“, sagt Koautor Anders Garm von der Universität Kopenhagen.

Hinzu kommt: Der Bereich des scharfen Sehens erstreckt sich bei den Vanadis-Borstenwürmern über mehr als 150 Grad. „Im Vergleich zu anderen kleinen Wirbellosen ist dies bemerkenswert“, schreiben die Biologen. „Einige Spinnen haben zwar eine höhere Sehschärfe, aber nur in einem engen Sehwinkel – und selbst die Sehschärfe des Menschen sinkt abseits der Fovea auf nur noch rund zehn Prozent.“

Ebenfalls ungewöhnlich für einen Borstenwurm ist die zeitliche Auflösung der Riesenaugen: Die Vanadis-Würmer können damit noch zehn bis 15 Lichtblitze pro Sekunde unterscheiden – das ist viel für einen Polychaeten“, wie Bok und seine Kollegen erklären.

Was sollen die Riesenaugen im Dunkeln sehen?

Das Merkwürdige jedoch: Die Borstenwürmer sind nachtaktiv und jagen ihre Beute – Seescheiden und Rippenquallen – im Dunkeln. Wozu also benötigen sie so riesenhafte, scharfe Augen? Bisher können die Forscher darüber nur spekulieren. Eine mögliche Erklärung bietet jedoch die Fähigkeit dieser Würmer, nicht nur sichtbares Licht, sondern auch UV-Strahlung zu sehen. „Vielleicht halten die Würmer Ausschau nach Beute, die mittels Biolumineszenz im UV-Bereich leuchtet“, sagt Garm.

Denkbar wäre aber auch, dass die Borstenwürmer untereinander ultraviolette Signale austauschen, beispielsweise bei der Partnersuche. „Wenn man dafür normales blaues oder grünes Licht nutzt, riskiert man, Räuber anzulocken. Wenn der Wurm aber stattdessen UV-Licht aussendet, bleibt er für alle außer seinen Artgenossen unsichtbar“, sagt Garm. Bisher wurde eine UV-Biolumineszenz allerdings noch bei keinem Tier eindeutig nachgewiesen. Der Vanadis-Borstenwurm könnte der erste sein.

Evolutionär ziemlich jung

Interessant sind die scharfen Riesenaugen dieser Meereswürmer aber auch in evolutionärer Hinsicht. Denn der Stammbaum der Borstenwürmer legt nahe, dass sie ihre außergewöhnlichen Sehfähigkeiten erst vor wenigen Millionen Jahren entwickelt haben. „Das zeigt, dass selbst ein funktionell so weit entwickelter Sehsinn in relativ kurzer Zeit entstehen kann“, erklärt Bok. (Current Biology, 2024; doi: 10.1016/j.cub.2024.02.055)

Quelle: University of Copenhagen

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